Mein Senf zu: Wer darf in die Villa Kunterbunt?

Sei gegrüßt.

Ich weiß gar nicht mehr, wie ich auf dieses Buch aufmerksam wurde. Ich vermute entweder beim Verlag auf Instagram oder – klassisch für meinen Beruf – in der Verlagsvorschau. Ich weiß aber noch dass ich es quasi direkt nach Erscheinen erworben habe und dann aber doch erst mal für ein Jahr auf den SuB gelegt habe.

Leider ist das Thema auch ein Jahr später immer noch topaktuell und gerade nach der Messe, wo ich mit vielen tollen Menschen auch über diese Thematik gesprochen hatte, wollte ich nun doch mehr wissen. Das wichtigste um Anti-Rassistisch handeln zu können ist das selbstständige weiterbilden.
Und da ich ja Bücher an Eltern und Kinder verkaufe, ist es mir durchaus ein Anliegen dort besser Bescheid zu wissen.

Allgemeine Infos

InhaltsangabeEckdatenBuchmacher*innen
Cover des Buches "Wer darf in die Villa kunterbunt?". Ganz oben steht die Autor:innen-Namen, darunter der Titel. Dann folgt der Untertitel. Unter der Schrift sieht man ein gezeichnetes Haus, das die Villa Kunterbunt von Pippi Langstumpf andeutet.Wer kennt sie nicht, die »Zehn kleinen N***-lein«? Diese Geschichte von zehn kleinen, als Schwarz markierten Figuren, die der Reihe nach zu Tode kommen, sollte der Unterhaltung von (weißen) Kindern dienen. Selbst wenn Text und Melodie des Zählreims heute nicht mehr so oft rezipiert werden, sind sie fest im kollektiven Gedächtnis verankert.

Auch in zahlreichen Comicreihen wie Tim und StruppiAsterixMecki oder Lurchi werden Schwarze Figuren vor allem aus einem weißen Blickwinkel dargestellt, erfahren diffamierende und vorurteilsbelastete Beschreibungen, Blackfacing, kulturelle Aneignung, Tokenismus. Wie ein roter Faden zieht sich Rassismus durch das Genre der Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts und ist selbst in beliebten Kinderbüchern von heute noch zu finden.

Das Autorenpaar zeichnet die Genese von Rassismus in der Kinderliteratur nach, reflektiert die sogenannte ›Kinderbuchdebatte‹ und erklärt, warum viele Kinderbücher literarisch nur aufgrund von Rassismus funktionieren. Ihre konkreten Vorschläge zum Umgang mit rassistischen Kinderbüchern helfen Eltern und Vorlesenden, Rassismus in Kinderbüchern nicht nur zu verstehen, sondern auch selbst zu erkennen.

– Inhaltsangabe auf der Verlagswebsite (Stand: 04.11.23, 19:17 Uhr)
Titel  Wer darf in die Villa Kunterbunt?
Untertitel  Über den Umgang mit Rassismus in Kinderbüchern
Autor*innen  Dr. Lisa Pychlau-Ezli & Özhan Ezli
Verlag  Unrast
ISBN  978-3-89771-191-4
Seiten  312
Erscheinungsdatum  31. Oktober 2022
Preis  18,- €
Stand: 04.11.23, 19:17 Uhr
Dr. Lisa Pychlau-Ezli studierte Germanistik und Sportwissenschaften in Frankfurt und promovierte in der germanistischen Mediävistik. Sie forscht und publiziert zu den Themen Intersektionalität und Semiologie und arbeitet freiberuflich als Literaturkritikerin und im Verlagswesen.

Özhan Ezli studierte Politikwissenschaften, Medienwissenschaften und Sportwissenschaften in Marburg und Frankfurt. Sein Themenschwerpunkt liegt in der Pädagogik; er arbeitet hauptberuflich als Studienrat.

Verlagsangabe online (Stand: 04.11.23, 19:17 Uhr)

Mein Senf

Das Buch ist richtig gut und gleichzeitig sachlich geschrieben, ohne dabei langweilig oder langatmig zu sein – in meinen Augen das wichtigste Kriterium für ein gutes Sachbuch. Ich war wirklich recht schnell durch, obwohl ich bei Sachbüchern sonst gerne auch mal länger brauche. Das Thema war aber einfach richtig interessant (und wichtig!!!), sodass ich immer mehr wissen wollte.

Beginnend mit einer Einleitung, in der sozusagen die Motivation für dieses Buch dargelegt wird, unterteilt sich das Buch anschließend (also die Einleitung nicht mitgezählt) in zwei Teile: Den theoretischen und den analytischen Teil. Beide Teile sind sehr wichtig.
Im Theorieteil wird – wie der Name schon sagt – erstmal alles theoretische erläutert, damit man dann den zweiten Teil verstehen kann. Es werden verschiedene Formen von Rassismus dargelegt, wichtige Begriffe der Anti-Rassismus-Forschung wie „white fragility“ oder „white privilege“ (und weitere) und abschließend über Rassismus in Deutschland und in Zusammenhang mit Kindern näher beleuchtet. Besonders die erklärten Begriffe bzw. die Phänomene, die dahinter stehen, waren mir bereits bekannt, aber sie nochmal kurz dargelegt – vor allem die Herkunft und „Begründung“ der Phänomene – zu bekommen, hat sehr geholfen im weiteren Verlauf des Buches.
Auch der analytische Teil beginnt, um genau zu sein, mit Theorie: Wie es sich für eine Forschungsarbeit gehört, werden zunächst die zugrundeliegenden Methoden angeführt. Dazu werden hier literaturwissenschaftliche und philosophische Grundlagen erklärt. Das mag insgesamt nach einer Menge Theorie klingen, aber all das ist wichtig um dann im folgenden die Analyse der Kinderbücher verstehen zu können. Analysiert werden dann einige bekannte Klassiker, wie „Tim & Struppi“, „Pippi Langstrumpf“ oder auch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Es sind noch mehr Titel dabei, die sehr bekannt, viel (vor-)gelesen und nach wie vor viel verkauft werden – und sie alle werden (mehr oder weniger) ausführlich hinsichtlich der enthaltenen rassistischen Darstellungen durchleuchtet.

Wichtig ist dabei – und das betonen die Autor*innen auch deutlich: Eine Geschichte kann rassistische sein, was nicht gleichzeitig bedeuten muss, dass ein*e Autor*in eine Rassistin ist. Sehr wohl wurden die Autor*innen von Kinderbüchern aber – wie wir alle – in einer rassistisch geprägten Gesellschaft sozialisiert.

Besonders gut fand ich im übrigen das Zwischenfazit, dass nochmal die Analyseergebnisse der Kinderbücher zusammenfasst, bevor es dann um die Analyse der Kinderbuchdebatte von 2013 geht.

Letztlich muss ich sagen: Ich hatte etwas anderes von dem Buch erwartet, aber ich bin definitiv nicht enttäuscht! Ich habe definitiv auch noch nicht alles verstanden und muss noch einiges lernen. Manchmal hatte ich ehrlich gesagt das Gefühl, dass ein Beispiel sehr weit hergeholt sei. Aber ich kann die Gedankengänge dahinter verstehen und akzeptieren, dass da sicher was dran ist und ich es einfach noch nicht verstehe (Schöne und das Biest z.B.).
Andererseits sehe ich viele meiner Gedanken dazu – und zum Thema Kinder & Lesen generell – bestätigt. V.a. geht es um diese beiden Dinge:

(Kleinere) Kinder sind somit sehr gut in der Lage, implizite und nonverbale Informationen aufzunehmen und abzuspeichern, sind sie jedoch gleichzeitig nicht imstande, diese kritisch zu reflektieren.

– Wer darf in die Villa Kunterbunt?, S. 81

Dieser Punkt kommt in allen möglichen Bereichen zum Tragen, sei es wie hier das Weitertragen rassistischer Narrative oder das zuschreiben bestimmter Rollenerwartungen (spricht Rosa-Hellblau-Falle; dazu stelle ich beizeiten auch mal noch ein Buch vor…).

Es seien jedoch die Eltern, die fürchten, ihre Kinder zu überfordern, indem sie ihnen als >schwierig< empfundene Themen zumuten, und daher bevorzugt das Altvertraute kaufen. Diese Sorgen hält Obergshaus [Leiterin des Klett Verlags] allerdings für unbegründet und rät dazu, Kindern mehr zuzutrauen: >>Wenn es [Kindern] wirklich zu viel wird, legen sie das Buch weg.<<

– Wer darf in die Villa Kunterbunt?, S. 232

Ich kann diese Einschätzung mit meiner langjährigen Erfahrung als Buchhändlerin nur bestätigen. Die Eltern sind immer in Sorge, das Buch sei zu spannend, zu traurig, zu schwierig, zu… Kinder sind da viel offener – und machen tatsächlich einfach eine Pause, wenn es zu viel wird. Sie lesen das Buch dann einfach zu einem späteren Zeitpunkt (weiter).
Wie oft ich wegen verstockter Eltern ein tolles Kinderbuch nicht verkaufen kann oder zusehen muss, wie das Kind sich in sein Schicksal fügt. Wenn man Kindern immer nur dass zu lesen gibt, was man selbst als wertvoll erachtet, statt sie auch mal lesen zu lassen, was ihnen gefällt, ist das der sicherste Weg sie von Büchern weg zu bekommen…

Alles in allem also ein sehr gutes und wichtiges Buch, dass man aber nur lesen sollte, wenn man bereit ist, seine eigene White Fragility zu überwinden und sein White Privilege zu hinterfragen – aber sonst kauft man wohl auch das Buch nicht…

Deine
Marina
(DarkFairy)

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