Mein Senf zu: Englischer Harem

Sei gegrüßt.

Es gibt Bücher, die man gar nicht sucht, über die man einfach zufällig stolpert, weil sie irgendwie in dein Leben müssen. Mir ging es mit dem heutigen Buch so.
Entdeckt habe ich es in einer „Alles 1€“-Kiste vor einem Second Hand Shop zu Gunsten des Tierheims Bonn. Ach, für einen Euro? Da kann das Buch ruhig mit. Und diese anderen drei da auch. Ist ja außerdem für einen guten Zweck…

Das mich „Englischer Harem“ so dermaßen abholt hatte ich allerdings nicht erwartet.

Allgemeine Infos

InhaltsangabeEckdatenAutor*in
Foto des Taschenbuchs "Englischer Harem", Diogenes VerlagEine junge Frau zu ihren Eltern, untere Mittelschicht im Londoner Vorort: »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Ich heirate, die schlechte: Er ist Perser. Und übrigens: Er hat bereits zwei Frauen.« So beginnt ein provozierender Roman über Heimat, Kochen und die Faszination des Fremden … und eine Liebesgeschichte wie keine andere – für diese Zeit.

– Klappentext
Foto des Taschenbuchs "Englischer Harem", Diogenes Verlag

Titel  Englischer Harem
Autor*in  Anthony McCarten
Übersetzer*in  Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Verlag  Diogenes
ISBN  978-3-257-23940-9
Seiten  592
Erscheinungsdatum  26. Mai 2009
Preis  14,- €

Stand: 21.09.2022

Anthony McCarten, geboren 1961 in New Plymouth/Neuseeland, schrieb als 25-Jähriger mit Stephen Sinclair den Theaterhit ›Ladies Night‹. Es folgten Romane und Drehbücher, für die er schon mehrere Male für einen Oscar nominiert war (u.a. zu den internationalen Filmen ›The Theory of Everything‹ und ›Darkest Hour‹ und ›Bohemian Rhapsody‹). Er lebt in London.

Verlagsinfos online (Stand: 21.09.2022, 14:26 Uhr)

Mein Senf

Ich habe oft das Gefühl, dass diese ganzen Diversitätsthemen und -ismen (also Rassismus, Sexismus usw.), mit denen ich mich viel beschäftige und die ich für sehr wichtig halte, hauptsächlich in Jugendbüchern stattfinden. Das ist allerdings ein Trugschluss. Die Literatur im Erwachsenen-Segment dazu ist nur weniger… „in your face“.
„Englischer Harem“ von Anthony McCarten ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Man nehme nur mal den Klappentext, der klingt nett. Vielleicht sogar ein bisschen lustig. Er verrät nicht, dass das Buch ein einziger großer Aufruf zu mehr Verständnis und Toleranz ist. Auf einem Jugendbuch stünde sicherlich das Schlagwort „Toleranz“ irgendwo im Klappentext… Ich glaube, das liegt daran, dass Jugendliche gezielt nach „Problemliteratur“ suchen, Erwachsene dagegen werden nicht mehr gerne belehrt, halten sich für „fertig geformt“ was gesellschaftliche Belange angeht.

Egal, ich möchte an dieser Stelle gar nicht so sehr Jugend- und Erwachsenenliteratur vergleichen, ich möchte dir ein grandioses Buch vorstellen. Das ist „Englischer Harem“ nämlich. Die Lektür hat mir sehr viel Vergnügen bereitet, aber mich eben auch zum Nachdenken gebracht. Ganz falsch ist der Klappentext nämlich auch nicht. Und davon möchte ich ausgehen, um dir meine Eindrücke näher zu schildern:

So beginnt ein provozierender Roman über Heimat, Kochen und die Faszination des Fremden … und eine Liebesgeschichte wie keine andere – für diese Zeit.

Zweifelsfrei ist „Englischer Harem“ ein Roman über Heimat. Für diesen Themenkomplex ist besonders die Figur Saaman Sahar, genannt Sam, wichtig. Sam stammt aus Teheran, Iran, ist Perser von Geburt, aber auch irgendwie Engländer im Herzen. Das Vereinte Königreich und dessen Hauptstadt London wurde während des Studiums – und v.a. danach – seine Wahlheimat.
Ich kann nicht aus eigener Erfahrung sprechen, aber ich glaube, so ganz verliert man seine alte Heimat aber nie, sie bleibt immer im Herzen dabei. McCarten schafft es das sehr gut rüber zubringen. Er schreibt Sam als einen durch und durch nachvollziehbaren Mann.
Schon Goethe schrieb in seinem Faust „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust„, ein Gefühl, das vermutlich jeder Einwanderer dieser Welt kennt – und über das Menschen, die ihr ganzes Leben „am selben“ Ort verbringen durchaus einmal nachdenken sollten. Es würde zu mehr Verständnis und vielleicht sogar zu kulturellem Austausch führen.

Eine Form von kulturellem Austausch, der mir immer besonders gut gefällt, geht durch den Magen. Ja, ich rede vom Essen und damit auch vom Kochen. Ich liebe es einfach, neue Gerichte, Zutaten und Geschmäcker kennen zu lernen. Die eigene Kultur ins Kochen einzubringen, hat etwas Persönliches, finde ich. Genauso hat Kochen aber etwas sehr leidenschaftliches. Kochen kann so viel mehr sein als nur Nahrungszubereitung. Kochen kann Kommunikation und Ausdruck der eigenen Persönlichkeit sein.
Bei Sam Sahar ist es das zweifelsfrei. Diese eine Szene, wo er für Tracy kocht… Die Szene ist eigentlich recht kurz, aber sie drückt so unglaublich viel aus. McCarten schafft es in wenigen Worten Bilder zu entwerfen, die Liebe zwischen zwei Menschen ausdrückt. Bilder, die außerdem auch ein Gefühl von Heimatliebe vermitteln. Das gleichzeitig zu schaffen und dabei nicht komplett auszuufern, ist eine Kunst. Generell nutzt der Autor gerne Situationen rund ums Essen, um bestimmte Themen zu transportieren. Finde ich sehr gelungen.
Richtig gut finde ich außerdem , dass es hier um vegetarische Küche geht. Zwar nicht unbedingt aus ethischen Gründen, aber eine Beschäftigung mit und Anpreisung einer vegetarischen Ernährung kann nie schaden.

Genauso wenig wie die Beschäftigung mit dem „Fremden“. Wobei ich sagen muss, dass „Englischer Harem“ viel mehr ist, als einfach ein Roman über „die Faszination des Fremden„. Es geht nicht nur um Faszination, es geht auch um Unverständnis, Akzeptanz und Toleranz. Es geht darum, das Fremde kennen und vielleicht sogar verstehen zu lernen. Es geht um eine Horizonterweiterung.
Tracy, die zweite Hauptfigur neben Sam, ist die Figur, die diesen Aspekt am meisten verkörpert. Sie ist sehr neugierig und wissbegierig. Das Fremde fasziniert sie, aber sie bleibt nicht dort stehen, sondern beginnt sich damit auseinander zu setzen und zu lernen. Ich mag das an ihr, da sie wirklich verstehen will, was in meiner Wahrnehmung sogar noch einen Schritt weiter geht als Toleranz.
Der Faszination gegenüber stehen das Unverständnis, die Ablehnung, ja vielleicht sogar Angst und Neid. Es kommt zu ein paar unschönen Zwischenfällen – von verbal bis physisch werden eigentlich alle Diskriminierungsmöglichkeiten abgedeckt.
Mich macht das alles immer sehr wütend, weil ich weiß, dass es keine reine Fiktion ist. Es gibt Menschen, denen passiert so etwas tatsächlich. Ich freue mich über jeden, der wie Tracy interessiert und offen ist. Ich selbst bin auch so. Es gibt nun mal unterschiedliche Lebensentwürfe und Kulturen – und das ist auch gut so!

So gibt es z.B. auch verschiedene Formen von Liebe. Jeder Mensch braucht Liebe in seinem Leben, aber nicht alle verstehen, dass Liebe nicht zwangsläufig romantischer und/oder sexueller Natur sein muss. Liebe kann viele Formen annehmen und jede einzelne davon ist wunderschön (also außer sie wird toxisch, aber das steck ja auch schon im Namen…).
Anthony McCarten beschreibt in seinem Roman definitiv eine Form der Liebe, die für manche Menschen schwer zu begreifen ist. Diese Problematik greift er auch sehr direkt in der Geschichte auf. Die Art und Weise, wie er das umsetzt und verdeutlicht gefällt mir sehr. Er betrachtet das Ganze aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln, wodurch ein bemerkenswerter Querschnitt durch die Gesellschaft gezogen wird.
Er zeigt aber auch, dass die Gesellschaft sich in Privatangelegenheiten überhaupt nicht einzumischen hat. Solange alles einvernehmlich geschieht und keine Rechte Dritter verletzt werden, kann man zuhause machen, was man will. Das geht keinen etwas an. Menschen lieben es aber leider sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen, sie lieben es zu (ver-)urteilen und zu bewerten – und als soziales Wesen ist es nicht immer so einfach, auf die Meinung anderer zu pfeifen. Man will ja irgendwie dazugehören. Diese Schwierigkeit arbeitet McCarten ebenfalls gut heraus.

Alles in allem, ist „Englischer Harem“ eine bemerkenswert vielschichtige Gesellschaftskritik, die zum Nachdenken und Reflektieren anregt. Es ist gleichzeitig eine einzigartige Liebesgeschichte, mit ganz unterschiedlichen Figuren, die Einblicke in verschiedene Lebensentwürfe und Kulturen bieten. Und nicht zuletzt, ist es eine unterhaltsam geschriebene, fesselnde Geschichte, die einfach Spaß macht zu lesen.

Deine
Marina
(DarkFairy)

______
Hat dir mein Beitrag gefallen?
Ich würde mich freuen, wenn du ihn teilst: