Der Weihnachtself – Seite 4 – Mein Senf für die Welt

Der Weihnachtself

Seufzend ließ der Pastor sich an seinem Schreibtisch nieder und legte sein Gesicht in seine Hände. Nachdenklich massierte er sich die Stirn. Auf was hatte er sich da nur eingelassen? Er hörte wie die Dusche angestellt wurde und seufzte erneut. Schließlich erhob er sich und ging in die Küche. Er bereitete sich eine Tasse Tee zu und öffnete dann den Kühlschrank. Prüfend blickte er hinein und fluchte leise. Er hatte vergessen einzukaufen. Er würde wohl später noch mal los müssen. Auf keinen Fall würde er es sich antun, morgen Vormittag im Gewimmel des 24. einen Laden zu betreten. Davon abgesehen, hatte er morgen sowie so genug zu tun.

Mit einer Tasse Tee in der Hand kehrte der Priester in sein Arbeitszimmer zurück und nahm sein Handy zur Hand. Er wählte die Nummer eines alten Schulfreundes, der heute Kommissar bei der Koblenzer Polizei war.
„Alex? Ich bin es Christoph. Ich hab da ein Problem.“
„Christoph! Lange nichts gehört. Schieß los, aber fass dich kurz. Ich hab leider grad ein bisschen Stress!“
„Wer hat den nicht zu Weihnachten…“, seufzte Jung, riss sich aber dann zusammen und berichtete kurz was vorgefallen war. Er beschrieb Agilof als verwirrt, aber harmlos. Von dem Schwert sagte er jedoch nichts.
„Hmm. Pass auf, wenn er nichts über seinen echten Namen verrät und auch keine Papiere dabei hat, kann ich da eh‘ erstmal nicht viel machen. Solange er nichts verbrochen hat und keine Gefahr für sich oder andere Menschen darstellt, kann ich ihn ja nicht einsperren. Ich habe wirklich gerade genug zu tun. Außerdem kam grad eine Meldung rein, dass diese Nacht im Fernmeldeturm eingebrochen wurde. Ich muss jetzt da hochfahren…“
„Ist gut. Er kann erstmal bei mir bleiben. Ich werde ein Auge auf ihn haben, aber ich wollte den Vorfall eben gerne melden.“
„Das war ja auch richtig. Wenn du auf ihn aufpassen könntest, wäre das wirklich super. Ich melde mich in den nächsten Tagen, wenn Weihnachten rum ist, bei dir! Bis dann!“
Einen Moment lang lauschte der Priester noch dem monotonen Tut Tut Tut in der Leitung, bevor er auflegte und nachdenklich einen Schluck Tee nahm.

Als der Elf schließlich, in ein Hemd und eine Hose des Priesters gehüllt, das Badezimmer verließ, erhob sich Jung vom Schreibtisch und sah nach Agilof, welcher sich interessiert in der Wohnung umsah. Das meiste schien ihn zu verwirren, und erntete lediglich einen misstrauischen Blick seitens des Elfen. Vor dem großen Bücherregal im Wohnzimmer blieb Agilof allerding stehen. Es sah so aus, als beruhigte der Anblick der Bücher den Mann.

Als Agilof den Priester, der in der Tür stand und ihn beobachtete, bemerkte, meinte er, ohne allerdings den Blick von den Büchern zu nehmen: „Ihr sagt, Ihr seid kein vermögender Mann und dennoch habt Ihr so viele Bücher.“
„Ich bin auch nicht vermögend. Aber jetzt zu etwas anderem. Setz dich erstmal.“ Der Pastor nahm in einem gemütlichen Sessel Platz und wartete auf eine Reaktion des Elfen. Dieser blieb noch einen Moment vor den Büchern stehen und setzte sich dann auf das Sofa.
„Du sagtest in der Kirche, du hättest ein paar Fragen an mich. Gefragt hast du mich aber nur, ob ich ein Inquisitor sei. Das Alles ist für mich ein wenig… naja… verwirrend und bevor ich dir weitere Fragen beantworte, oder dich weiter hier behalte, möchte ich die ein oder andere Antwort haben.“, erklärte der Priester schließlich, schützte die Ellbogen auf die Armlehnen und verschränkte die Hände ineinander.
Agilof lachte kurz auf. „Ihr glaubt, für Euch ist das verwirrend? Aber gut, ich verstehe Eure Bitte. So fragt, Prie… Christoph.“
„Gut. Also du sagst, du seist ein Elf. Glaubst du das wirklich? Und wenn ja, was tust du dann hier? Ich dachte Elfen leben in Wäldern oder so…“
„Ich glaube nicht, dass ich ein Elf bin, ich weiß es. Ich sagte doch bereits: Ich bin hier, um mir ein Bild von Eurer Welt heute zu machen. Und ja, wir bevorzugen die Nähe des Waldes.“
„Was soll das denn bitte heißen? Ein Bild von unserer Welt heute machen? Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?“
„Ich selber habe sie noch nie gesehen. Haltet Ihr mich für so alt? Lediglich ein paar der Ältesten waren bei der Trennung der Welten zugegen.“
„Die Trennung der Welten?!“
„Sicher. Ihr müsst doch wissen, dass Tore zur Anderswelt, wie Ihr meine Heimat nennt, lange Zeit offen gewesen waren. Doch als die Kirche mit der systematischen Verfolgung und Hinrichtung der Hexen und der Ausrottung der Magie begann, sahen meine Vorfahren sich gezwungen die Übergänge zwischen den Welten zu versiegeln. Von Eurer Seite aus ist seitdem kein Tor mehr zu öffnen. Lehrte man Euch dies nicht?“
„Ähm… nein. Das hat mich niemand gelehrt. Ich weiß recht viel über die Inquisition und das Mittelalter. Auch die Geschichte davor und danach ist mir zum größten Teil bekannt, einfach weil ich mich für Geschichte interessiere, aber von einer Anderswelt ist in den Geschichtsbüchern keine Rede. Dafür müsste ich schon Märchen, Sagen und Legenden zu Rate ziehen.“
„So haben mein Volk und alle anderen Völker meiner Welt nicht Ihren Weg in Eure Chroniken gefunden?! Eure Inquisition muss wahrlich gründlich gearbeitet haben. Aber seht, Priester, hier sitze ich vor Euch: Sehe ich vielleicht wie eine Sagengestalt aus?“
Jung schwieg nachdenklich. Dass das einzige Bild, das der Elf von der Welt hatte ein mittelalterliches war, war genaugenommen eine äußerst plausible Erklärung für sein Verhalten. Allerdings konnte der Priester seinen Worten einfach keinen Glauben schenken. Da er aber einsah, dass jede Diskussion darüber ins Leere führen würde, ergab er sich seinem Schicksal und brummte: „Gut, sagen wir mal, ich glaube dir. Was heißt dann, du willst dir ein Bild von unserer Welt machen?“
„Nun ja. Wie gesagt, wir haben uns vor hunderten von Jahren abgegrenzt. Aber nur um uns selbst und unsere Welt zu schützen. Wir würden die Tore gerne wieder öffnen. Dazu müssen wir jedoch wissen, wie die Lage hier ist. Ich glaube Euch, wenn Ihr sagt, dass es die Inquisition nicht mehr gibt. Dies ist einer der Punkte, die es in Erfahrung zu bringen galt. Dies ist meine Mission, die mir von den Ältesten übertragen wurde.“
„Das heißt also, du sollst eine Weile hier leben und… forschen, ja?“
„Eine Weile ist vielleicht zu viel gesagt. Bereits übermorgen werden die Ältesten wieder das Tor für mich öffnen. Jeder Tag mehr hier vergrößere die Gefahr, der ich mich aussetzen würde, sagten die Ältesten.“
„Und seit wann bist du hier?“
„Diese Nacht habe ich das Tor durchquert.“
„Du sollst in nur drei Tagen rund 700 Jahre Geschichte aufholen?“
„Eure Geschichte ist mir egal, Christoph. Mich interessiert nur, wie die Welt heute ist, ob wir uns wieder annähern können oder nicht. Alles andere kann man später lernen.“
„Gut, dann akzeptiere ich das jetzt einfach mal so und frage nicht weiter. Wie kann ich dir also dabei helfen?“
„Eure Welt ist so anders, als alles, was ich über sie gelesen habe oder was mir meine Großmutter darüber erzählt hat. Nimm nur mal diese metallenen Monster, die du Auto nennst. Um die Wahrheit zu sagen: Eure Welt macht mir Angst. Ich brauche jemanden, der sich hier auskennt.“
„Dann habe ich noch eine letzte Frage für den Moment: Wieso hast du ausgerechnet einen Priester gesucht, wenn die Kirche der Grund für die Trennung der Welten war?“
„Die Kirche war das einzige, das mir vertraut erschien. Alles in dieser Welt hatte nichts mit dem zu tun, was ich während meiner Vorbereitung gelesen habe – nur das Kirchengebäude war mir bekannt. Also musste ich entgegen aller Ratschläge und Vorsicht den einzigen Ort aufsuchen, der mir irgendeinen Orientierungspunkt bieten konnte.“
„Das verstehe ich. Gut. Jetzt muss ich aber erstmal nochmal in die Stadt. Leider habe ich es versäumt einzukaufen. Ich möchte, dass du mich begleitest. Zum einen möchte ich dich ehrlich gesagt nicht allein in meiner Wohnung lassen und zum anderen, möchtest du dir ja sowieso ein Bild von unserer Welt machen. Ich schreibe noch eben einen Einkaufszettel und suche dir eine Jacke heraus.“
Damit erhob sich der Pastor und verließ den Raum. Agilof holte sein Notizbuch herbei und machte eine weitere Eintragung.

Erster Tag, Nachmittag
Entgegen aller Ratschläge habe ich einen Priester aufgesucht. Christoph Jung. Diese Welt ist einfach zu… anders. Ich glaube seiner Aussage, dass es keine Inquisition mehr gibt. Er hat mich in sein Heim eingeladen, mir trockene Kleidung gegeben und ist bereit mir zu helfen.

Jung und sein Begleiter machten sich schließlich auf den Weg in die Stadt. Nach einer kurzen Diskussion war Agilof auch bereit gewesen, sein Schwert in der Wohnung zu lassen. Zwar war der Elf nicht sonderlich erfreut, dass er wieder in das Auto steigen musste, aber die Fahrt verlief schon weit ruhiger, als noch die erste am Mittag.
In der Stadt hatte ein einziges Gedränge geherrscht. Scheinbar war Jung nicht der Einzige gewesen, der gedacht hatte heute noch dem Trubel entkommen zu können. Zunächst hatte Agilof sich im Löhr-Center über all die Menschen, schwer bepackt mit Einkaufstüten, gewundert. Für so manchen Stoß und Rempler hatte er einen bösen Blick verteilt. Jung hatte sich schweigend und hin und wieder Kopf schüttelnd neben ihm durch die Massen geschoben. Dann aber hatten sie plötzlich vor dem künstlichen, über drei Stockwerke reichenden Weihnachtsbaum in der Mitte des Einkaufscenters gestanden. Mit großen leuchtenden Augen hatte der Elf an dem Baum empor geblickt und war in ehrfürchtiges Schweigen verfallen. Der Pastor hatte nur gelächelt. So war es auch seinem kleinen Neffen beim letzten Besuch ergangen.
Der Elf war gar nicht mehr aus dem Staunen herausgekommen. In Jungs Stamm-Supermarkt, war der Elf fassungslos und mit großen Augen durch die Gänge geschlichen und hatte die Regale gemustert.

Nachdem die beiden schließlich aus der Stadt zurückgewesen waren, hatte der Elf seine Eindrücke sogleich wieder in seinem Notizbuch notiert, während der Priester den Herd angeworfen hatte und für ein einfaches, aber köstliches Abendessen gesorgt hatte.
Nach dem Essen gähnte Jung herzhaft und streckte sich. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. „Oh, schon kurz vor acht? Komm, das wird dich auch interessieren“, stellte er fest, erhob sich und sah Agilof erwartungsvoll an. Als dieser sich etwas irritiert ebenfalls erhob, ging der Priester voraus ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Der Elf zuckte leicht zusammen, als plötzlich eine Frau auf dem Bildschirm auftauchte.
„Was zum…? Wie kommt die Frau in diesen Kasten in Eurem Heim?“, fragte er mit leichtem Entsetzen.
Der Angesprochene reagierte schnell und bevor Agilof zu einem Rettungsversuch ansetzen würde, meinte er nur: „Sie ist nicht wirklich darin. Es ist sowas wie… eine Kristallkugel. Die kennst du doch sicher, oder?“ Den leichten Spott konnte er nicht ganz aus seiner Stimme verbannen. Er war müde und heute war einfach viel Seltsames passiert. Der Elf, der den Spott nicht bemerkt hatte, erinnerte sich, dass die Menschen im Mittelalter geglaubt hatten, Hexen könnten die Zukunft in Kristallen lesen. Er nickte also und setzte sich zu seinem Gastgeber aufs Sofa.
„Dieser Kasten zeigt Euch also die Zukunft?“
„Nein, die Gegenwart. Jetzt kommen die Nachrichten. Also pass gut auf, du wolltest doch wissen, was im Moment so in der Welt los ist.“
Schweigend verfolgte der Elf die Nachrichten, die scheinbar allesamt entweder schockierend oder aber kaum von Belang waren.

Nach den Nachrichten erhob sich Jung wieder.
„Ich muss noch etwas arbeiten. Meine Predigt für morgen ist noch nicht fertig. Der heutige Tag verlief aber nicht so, wie ich ihn geplant hatte.“
„Verzeiht. Ich werde Euch in Ruhe Euren Aufgaben nachgehen lassen. Darf ich mich wohl in dieser Zeit noch etwas mit diesem Zauberkasten beschäftigen?“ Etwas verlegen deutete Agilof auf den Fernseher.
„Sicher. Ich zeig dir, wie man ihn benutzt.“

Daraufhin zog sich der Priester in sein Arbeitszimmer zurück und schloss die Tür. Müde setzte er sich an seinen Schreibtisch und schaltete den Laptop ein. Eigentlich fiel es ihm nicht schwer seine Predigten zu schreiben, aber heute fehlte ihm die nötige Konzentration. Zu viele Gedanken kreisten in seinem Kopf umher. So war es schließlich nach elf, als er sich endlich erhob. Er ging ins Wohnzimmer, um nach dem Elf zu sehen. Dieser war vor dem Fernseher eingeschlafen. Ohne genau zu wissen warum, musste der Priester schmunzeln. Dieser Mann dort auf seinem Sofa war schon sehr seltsam. So verwirrt konnte man doch eigentlich gar nicht sein. Leise schaltete Jung den Fernseher aus und legte eine Decke über den Schlafenden. Dann begab er sich selbst zu Bett.

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5 Antworten auf “Der Weihnachtself

  1. Neugierig, wie ich nun mal bin, habe ich angefangen, Deine Geschichte zu lesen. Sehr interessant, ehrlich!
    Da ich aber wegen meiner Augen nicht so lange (ist natürlich relativ…) lesen kann meine Frage:
    Ist ausdrucken möglich? Und wenn ja, wie mach ich das? Wenn das aber nicht geht, dann lese ich halt in Raten, will doch unbedingt wissen, wie es weiter geht und endet!
    LG Ingrid

    1. Du kannst auf PDF klicken (ganz oben auf seite 1) und dann öffnet sich entweder eine neue Registerkarte (jenachdem welchen browser du nutzt) oder du kannst das speichern. Wenn das PDF offen ist, kannst du die Geschcihte ausdrucken. Oben rechts ist ein Drucker Symbol.

      Freut mich, wenn sie dich schon neugierig gemacht hat :D

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